Berlin zum Nachlesenhören

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Zwei Weltkriege, verschiedenste politische Systeme, Kaiser und Führer, West und Ost, Teilung und Mauerfall – so lässt sich das 20. Jahrhundert Berlins zusammenfassen. Oder auch so: Dada und Cabaret, Swing und Jazz, Scherben und Neubauten, Punk und Techno! Es brauchte einen Franzosen, um die Geschichte der Musiker und Songs der Stadt aufzuschreiben.
Flugzeuglärm,, Autoverkehr, Schienenquietschen, Sirenen und natürlich immer wieder Menschen - Geräusche, wie sie jede Großstadt der Welt kennt. Ein universeller Mischmasch aus Maschinen- und Menschen-Lärm, nur gelegentlich einem ganz bestimmten Ort zuzuordnen. Es sind aber nicht solche Klänge, die Theo Lessour interessieren. Der dunkelhaarige, 42 Jahre alte Franzose hat seine beiden großen Leidenschaften in einem Buch vereint: Berlin und die Musik. „Berlin Sampler – from Cabaret to Techno“ heißt Lessours bislang auf französisch und englisch veröffentlichte Werk. Er schlägt den großen Bogen: Über einhundert Jahre Musik aus Berlin, von 1904 bis 2012 und fragt sich selbst: „Warum mag ich die Neubauten, warum mag ich Nick Cave, warum mag ich den Ashra Tempel und alles zusammen? Jedenfalls habe ich gedacht, es gibt vielleicht ein besonderes Gefühl für die Musik und dann natürlich die Idee, ein bisschen tiefer zu gucken.“ Mit Otto Reutter etwa geht es weit zurück in die Zeit nach dem ersten Weltkrieg: Der Sänger und Komiker spielte damals vor allem im Wintergarten am Bahnhof Friedrichstraße. Das Gebäude steht schon lange nicht mehr. Aber mit Lessour erfährt man davon und kann sich vorstellen, wie es damals in Berlins Mitte zuging. Hunderte von anderen Musikern, vor allem die Querköpfe, die Experimentierfreudigen, die Avantgardisten, lassen andere Bezirke und Milieus wieder auferstehen oder machen sie greifbar: „Ich glaube, diese Stadt hat eine lange Geschichte nicht von Armut, aber harte Lebenscondition. Und Du kannst das hören, zum Beispiel bei Claire Waldoff.“
Was also ist der der rote Faden, der die lesbische Claire Waldoff, die vor dem ersten Weltkrieg zur Kabarettkönigin aufstieg, mit Berliner Techno verbindet? Wie passen Krautrock, Spontiklänge und deutscher Punk, wie die prominenten Berlin-Besucher David Bowie, Nick Cave oder Iggy Pop zusammen? Theo Lessour, der eigentlich ganz anders heißt, sagt dazu in seinem charmanten Französisch-Deutsch: „Manchmal es gibt Perioden, wo eine Stadt hat einen sehr besonderen Klang. Für mich zum Beispiel die 70er Jahre, die 80er Jahre, es gab genau einen Berliner Klang, sehr präzis. Du kannst komplett genau hören einen Klang von der eigenen Kultur, der eigenen Art, die Sachen zu machen.“
So wie zum Beispiel bei Ton Steine Scherben. „Macht kaputt was euch kaputt macht“ sangen die Spontirocker einst, Soundtrack zu vergangenen Hausbesetzer-Krawallen. Auch eine Möglichkeit, den einst so umkämpften Bezirk Kreuzberg von einer anderen Seite zu entdecken als über seine Bars und Clubs. Das Charmante an der Musik aus Berlin, die Lessour interessiert: Zum einen die Begeisterung fürs Dilettantische, die sich durch das letzte Jahrhundert zog: Nichts wissen, nichts können, gegen den deutschen Perfektionismus ankämpfen - und dabei extrem interessante Musik machen „.. und vielleicht auch eine Art radikaler Hedonismus. Aber das gehört zusammen.“
Berlin, auch das zeigt sich in Lessours musikalischem Reiseführer, ist nicht erst seit Mauerfall Magnet für Musiker und Musikinteressierte aus aller Welt – der Strom reißt seit über hundert Jahren nicht ab. Arnold Schönberg und Zarah Leander, David Bowie und Lou Reed, Peaches und Gonzalez, Techno-DJs wie Blake Baxter und Richie Hawtin – nur einige, die hier vorbeischauten und manchmal für immer blieben. Und so ist es auch kein Zufall, dass ein Franzose diesen musikalischen Stadtführer zusammengestellt hat: Der Blick von außen ist oft genauer als der aus der Mitte: Theo Lessour ist Teil der musikalischen Karawane, die schon so lange durch Berlin zieht und sich dabei ständig verändert: „Dieses „Ich habe meine Füsse in Scheiße, ich habe kein Geld und ich will etwas machen“ ist ein bisschen verschwunden. Das ist der Preis der Normalität, glaube ich.“

Berlin Sampler „From Cabaret To Techno: 1904-2012, a century of Berlin music“ ist im Ollendorff Verlag erschienen. 365 Seiten, kostet 18 Euro.