Das Waffenarsenal des Produzenten

Flower
Die kanadische Musikerin Grimes kommt am Freitag ins Berliner Berghain. Nicht nur sie hat erkannt, was aus der Verbindung von Technik und Stimme Großartiges entstehen kann!
Manchmal braucht es ein kleines Genie, das einem Augen und Ohren öffnet. Eines wie Grimes. Hinter diesem Namen versteckt sich die 24-jährige kanadische Musikerin Claire Boucher. Grimes kann in ihrer Musik mühelos den Schalter zwischen Pop und Dance und Electro umlegen. Und wenn sie das tut, dann fällt es einem plötzlich auf: wie selbstverständlich mittlerweile überall in der Musik an der Stimme manipuliert und herumgedoktort wird! In Hip-Hop- und R’n’B-Produktionen, bei Madonna, Lady Gaga, Daft Punk und all den anderen: Effekte auf den Vocals, wo man auch hinhört! Eine „normale“, unbearbeitete Stimme inzwischen eher die Ausnahme als die Regel.
Wenn Grimes allerdings anfängt, mit ihrer Stimme herumzuspielen – oder besser: mit den Geräten und Programmen, die ihre Stimme biegen und brechen und zerhacken, sie in Schleifen abspielen, rückwärts, vorwärts, höher, tiefer, anders – dann wird noch etwas ganz anderes klar: es braucht inzwischen keine aufwändigen Studios und teure Technik mehr, um die Stimme wie ein kompliziertes Instrument einsetzen zu können. Selbst ohne großartige Gesangskünste sind spektakuläre Klänge möglich, Grimes lotet gerade aus, wie weit man dabei gehen kann, ohne zu nerven.
Dazu wird sie wohl auch am Freitag, wenn sie im Berliner Berghain auftritt, wieder mit mehreren Mikros jonglieren, auf Tasten herumdrücken, an Knöpfen drehen, auf dem Synthesizer herumhacken. Grimes kann verpeilt sein, der Übergang von Soundcheck zum Konzert gerät bei ihr manchmal fließend, ein richtiges Ende ist auch nicht unbedingt Pflicht. Sie flucht auf der Bühne, wenn irgendwas nicht klappt, und dann bricht sie auch schon mal mitten im Song ab, mit der Bemerkung, das sei jetzt zwar nicht so toll, aber sie habe ja noch viele andere gute Stücke auf Lager. Übelnehmen kann man ihr das nicht, das verhindern Charme und Charisma. Und die Musik.
Natürlich ist sie damit nicht die einzige und auch nicht die erste, die sich so intensiv mit ihrer Stimme beschäftigt. Der so irreführend als Post-Dubstep-Musiker bezeichneten James Blake schaffte es mit seiner Kombination aus menschlichem Gefühl und digitaler Künstlichkeit bis in die Musikkolumnen von wirklich nicht besonders avantgardistischen Frauenzeitschriften. Der New Yorker Nicolas Jaar scheint seine Stimme als Lego-Baustein zu begreifen, seine Live-Auftritte kennen keine Songs mehr im herkömmlichen Sinne, sondern bestehen mitunter aus einem langen, sich ständig verändernden Stück aus Stimmfetzen, Soundschnipseln, Effekten und Geräuschen, das – und hier endet der Vergleich zur experimentellen Musik – wirklich eingängig ist.
Das noch als Geheimtipp geltende Mann-Frau-Duo Purity Ring, das wie Grimes aus Kanada kommt, geht noch einen Schritt weiter in Richtung Gesamtkunstwerk: Er hat sich eine Art Lichtorgel gebastelt. Sobald er auf die einzelnen Leuchten schlägt, erklingen Töne, die Lampen ändern ihre Farbe, gehen an oder aus. Sie singt dazu, die Stimme wird geloopt und zerstückelt, tiefer gelegt, höher gepitcht, in Echtzeit. So einfach sich das anhört, so atmosphärisch dicht ist das Ergebnis, wenn Purity Ring am richtigen Ort auftreten. Einer Kirche zum Beispiel.
Die Überlegungen, die bei all dem dahinter stehen, sind alt und zwar mindestens 40 Jahre. Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre entdeckte die Popmusik den Vocoder für sich. Ein Gerät, das ursprünglich von amerikanischen Militärs zur Verschlüsselung von Sprache benutzt wurde und gesprochenen oder gesungenen Worten etwas Maschinenhaftes verleiht. Was alles kann man mit der Stimme anfangen, wie sie ver- und entfremden, ihr einen anderen Charakter verleihen? Fragen, die sich mit Aufkommen des Vocoders neu stellten und zum Teil von ihm beantwortet wurden. Die deutschen Elektronik-Pioniere Kraftwerk setzten die Vocoder-Roboterstimme ausgiebig in ihren Stücken ein, sie war wichtiges Merkmal des Electro Funks von Africa Bambaataa und Co., wie gemacht für Breakdancer, die zum Sound der Musik die abgehackten Bewegungen eines Roboters imitierten.
Zur etwa gleichen Zeit wie der Vocoder tauchte ein entfernter Verwandter auf, die Talk Box, nicht viel mehr als ein Schlauch, der von Gitarre oder Synthesizer in den Mund des Musikers führt und ihm erlaubt, aus künstlich erzeugtem Klang Worte zu formen. Vielleicht liegt es an dieser umgekehrten Arbeitsweise, bei der aus elektrischen Klängen etwas Menschliches wird, dass sich auch die Rockmusik dafür interessierte. Peter Frampton und seine „sprechende Gitarre“ machten die Talk Box bekannt.
Die mit Abstand einflussreichste Errungenschaft in Sachen musikalischer Stimmverfremdung kam vor 15 Jahren über uns und ist seitdem nicht mehr verschwunden: Auto-Tune. Eigentlich ein Programm zur Begradigung von schiefem Gesang und als „Cher-Effekt“ bekannt, seit es in ihrem Hit „Believe“ zum ersten Mal in einer kommerziellen Produktion verwendet wurde. Im Hip-Hop- und Dance-Bereich geht es kaum noch ohne Auto-Tune, Produzenten setzen es nicht nur als Effekt, sondern als echtes Stilmittel ein, um Stimmen mit einer Art metallischen Klangglanz zu überziehen. Hip-Hop-Großverdiener Jay-Z sah sich so genervt davon, dass er vor drei Jahren den „D.O.A.“ besang, den „Death of Auto-Tune“. Paradoxerweise half ihm Kanye West bei der Produktion des Titels, also einer, der in Sachen Auto-Tune zu den fleißigsten Musikern überhaupt gehört.
Es ist kein Zufall, dass der Hip Hop, dass sich R’n’B-Urban-Dance und die elektronische Musik nach wie vor auf alle Arten von Stimmeffekten stürzen: Die Programme und Gerätschaften sind eine Erweiterung des musikalischen „Waffenarsenals“, auf das einschlägige Produzenten zurückgreifen können. Im Gegensatz zur Rockmusik, die im Großen und Ganzen vom Image des Unverfremdeten und Authentischen lebt, waren Techno, House und Rap in diesem Sinn schon immer Produzentenmusik: Man zeigt, was man drauf hat an den Knöpfen und Reglern und am Computer. Stücke werden nicht eingespielt, sie werden gebaut, Maschinenmusik, bei der ein gewisser Stolz auf Künstlichkeit mitschwingt. Produzenten von Rockmusik können all das auch, und natürlich nutzen auch sie ausgiebig die Mittel der modernen Audioproduktion. Auch die Rockmusik setzt Computerprogramme wie Auto-Tune ein. Aber eben nicht offensichtlich, nicht als Stilmittel, sondern nach Gebrauchsanweisung, um nicht getroffene Töne im Nachhinein passend zu machen. Die Kunst liegt in der Rockmusik darin, den Eindruck von Künstlichkeit zu vermeiden. Ein Konzept, das einem Wirbelwind wie Grimes völlig fremd ist: Sie ist von all den Musikern, die derzeit mit Stimme und Electronica experimentieren, am weitesten, was die Verbindung aus Pop, neuen Sounds und Künstlerpersönlichkeit angeht – eine echte „Singer-Trackwriterin 2.0.“ Oder so etwas in der Art.