Wer ist Steve Singleton?

Der ein oder andere hat sich vielleicht schon über meine Twitter-Timeline an der Seite gewundert: das Foto einer Baseballjacke, verbunden mit der Frage an diverse Menschen mit dem Namen „Steve Singleton“, ob das eventuell ihre alte Teamjacke sein könnte. Dahinter steckt natürlich etwas! Ein Geheimnis! Vergangenheit, alte Geschichten, verschwundene Menschen und so. Aber vielleicht fange ich erst einmal mit dem Anfang an.
Dieses schwarz-weiß Foto, das bin ich im Jahr 1984, auf meinem Schülerausweis. Und wie man da sieht, trage ich eine Baseballjacke. Die war früher mal mein ganzer Stolz. Marineblauer Stoff. Ärmel aus Leder. Die Jacke war meine Eintrittskarte für die Rockabilly-Subkultur. So dachte ich mir das jedenfalls, als ich 1983 in einem Westberliner Secondhand-Shop unglaubliche 230 D-Mark auf den Tisch legte. Die beste Jacke der Welt hatte eben ihren Preis.
Jetzt riecht sie ein bisschen, meine liebe alte Jacke, kein Wunder, sie gehört mir mehr als 30 Jahre und dann hatte sie ja noch ein Leben davor. Auf der Brust steht, wem sie früher gehörte: Steve Singleton, genannt „Sing“. Basketballspieler an der Oakland High School in Kalifornien. Die 78 auf dem Ärmel ist nicht etwa seine Spielernummer, sondern der Hinweis auf sein Abschlussjahr an der Schule: 1978. Damals wusste ich das nicht, zum Glück, ich stand ja nicht auf die 70er, sondern auf die 50s, auf Haartolle und auf Autos mit riesigen Heckflossen, auf den ganz frühen Elvis. Rockabilly eben. Das sollte diese uramerikanische Jacke – im Zusammenspiel mit Frisur und restlichen Klamotten – ausdrücken.
Nur: wer ist eigentlich dieser Steve Singleton? Das würde ich immer noch gerne wissen. Irgendwie fühlt es sich nämlich an, als sei er ein verschollener Freund, einer, der vielleicht Hilfe braucht, und dem ich, weil ich seine Jacke trage und damit auch einen Teil seiner Coolness, etwas schulde. Ist er groß oder klein? Kräftig oder dünn? Schwarz oder weiß? Unmöglich, das damals, in den 80ern, herauszufinden - in einer Zeit ohne Internet! Steve Singleton blieb ein Geheimnis – und nur so konnte ich als sinnsuchender Teenager all die Wünsche, Vorurteile und Ideologien, die in mir brodelten, halbwegs in Einklang bringen und die Jacke mythisch aufladen. Google hätte diese Fantasien im Nu zerstört.
Oder doch nicht? Ich habe mich jetzt noch einmal auf die Suche nach Steve Singleton gemacht – in der Hoffnung, einen coolen Typen zu finden. Malte mir aus, wie er sich darüber freute, dass es seiner Jacke gut geht, wie er mir erzählt, warum er sie weggeben hat und ich ihm sage, wie stark und besonders ich mich einst darin fühlte. Zuerst Anrufe bei seiner ehemaligen High School. Aber niemand dort kann oder will weiterhelfen. Ich soll es beim Ehemaligen-Clubs seines Basketball-Teams versuchen. Eine Mailadresse. Und ich ahne schon: da wird keine Antwort kommen. Gut, dann also Facebook. Angeblich ist ja über ein paar Ecken jeder mit jedem bekannt. Aber keiner der rund 20 angeschriebenen Steve Singletons reagiert. Fotos von der Jacke bei Twitter - wie gesagt, in der Twitter-Timeline an der Seite zu bewundern - aber auch hier alles vergeblich. Am Ende noch mal das gute alte Telefonbuch bemüht: in Oakland gibt es einen Steven Singleton. Ist er das? Egal, wann ich dort anrufe, es meldet sich nur ein Anrufbeantworter.
Es wird also wohl keine Antwort mehr geben auf die Frage, wer Steve Singleton war und wie seine Jacke aus Kalifornien nach Westberlin kam. Außer, man fragt meine Freunde von früher. Die haben nämlich, wegen des Schriftzugs auf dem Rücken, irgendwann angefangen, mich Sing zu nennen! Steve Singleton, das war für einen kurzen Augenblick ich selbst. Aber vielleicht liest er das ja hier. Oder jemand, der ihn kennt, liest es. Oder jemand, der weiß, was ich noch tun könnte. Immer her mit den guten Hinweisen.

P.S.: Eine Kurzfassung der Suche ist im Radio zu hören, am Samstag, dem 29.11.2014, ab kurz nach 16 Uhr im Deutschlandradio Kultur in der Sendung Echtzeit.