Biosphere - Der Soundtrack zur Atomkatastrophe

Flower
Im Mittelalter wäre Geir Jenssen wohl auf dem Scheiterhaufen gelandet. Wegen Hellseherei. Geir Jenssen veröffentlicht seit 20 Jahren anspruchsvolle, ruhige elektronische Musik, die mit der Genrebezeichnung „Ambient Music“ nur unvollständig beschrieben ist, meist unter seinem Projektnamen „Biosphere“. Die neue „Biosphere“-Platte ist ein Konzepalbum, heißt „N-Plants“ und hat nur ein Thema: Nippons Power Plants. Auf Deutsch: japanische Kernkraftwerke.
Japanische Kernkraft, wir erinnern uns, hat seit dem 11. März 2011 nicht mehr den besten Ruf. Das leicht Gruslige am neuen Biosphere-Album: Geir Jenssen hat es einen Monat VOR dem verheerenden Erdbeben, vor Tsunami, vor der Kernschmelze in Fukushima fertig gestellt. Jedenfalls behauptet er das im Promo-Zettel, den Musikjournalisten mit „N-Plants“ ausgehändigt bekommen.
Wer Geir Jenssen kennt, der dürfte ihm das auch glauben: Der im nächsten Jahr 50 werdende Norweger ist weder als Zyniker noch als großer Spaßvogel bekannt, sondern als ernster, ernst zu nehmender Musiker, der seine beiden großen Leidenschaften – die Ambient Music und die Natur – auf manchmal seltsame Art und Weise ausdrückt. Oder wie soll man es sonst bezeichnen, wenn Jenssen einen 8000er im Himalaya besteigt, das ganze mit einem tragbaren „Field Recorder“ aufnimmt und dann veröffentlicht?
Eigentlich, so schreibt Jenssen weiter, habe er sich einfach nur mit dem japanischen Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigen wollen und darüber ein Album machen wollen. Nach und nach aber habe sich der Fokus auf die Kernkraftwerke verschoben. Die Tracks würden die Art und Weise, wie sich die AKW in die japanische Natur einpassten, widerspiegeln, bildeten aber auch die Architektur und die Gefahr, die von ihrer Lage am Meeresrand ausgehe, ab.
Doch wie soll das mittels Musik vermittelt werden? Nicht viele Musiker wären dazu in der Lage, Geir Jenssen aber kann so etwas. Von seinen gelungensten Tracks – und auf „N-Plants“ finden sich etliche davon – geht oft eine unheimliche Bedrohung aus. Jenssen schafft es mit seinen elektronischen Mitteln, eine düstere Atmosphäre entstehen zu lassen – Musik, die ohne billige Effekte Angst erzeugen und Kälte verströmen kann, eisige Atmosphären schafft, ohne dabei seelenlos zu wirken! Er paart das mit einer Art Technikkritik – einer seiner besten Tracks, „The Shield“ aus dem Jahr 1994, wirkte in Verbindung mit Videobildern von riesigen Parabolantennen wie eine heftige Warnung vor Technikgläubigkeit und zu viel Fortschritt.
Und jetzt also „N-Plants“, Biospheres Nippon-Nuklearkommentar. Ein kleines Meisterwerk, von ähnlicher Qualität wie seine fast 15 Jahre alte Platte „Substrata“, die so mancher für die beste Ambient-Platte aller Zeiten hält. Auch bei „N-Plants“ erklingt Musik, die an eine ungemütliche Welt denken lässt, aber eben nicht an Eiswüsten oder Bergspitzen im Schneesturm, sondern an blitzblank geputzte Panele, an riesige Kommandopulte, vor denen einsam ein Techniker sitzt. Die pulsierenden Klänge rufen Bilder im Kopf hervor, Bilder von den Lämpchen und Zeigern und Messgeräten, die eine so trügerische Sicherheit ausstrahlen. Wabernde elektronische Sounds und zischende, zischelnde Synthesizer, die nach viel zu viel Elektrizität und undichten Verntilen klingen. Dazu immer mal wieder sanfte Beats, die sich langsam in einen Track schleichen und dann wieder verschwinden.
In einigen der Tracks lässt Geir Jenssen japanische Stimmen auftauchen, kurze, aus dem Zusammenhang gerissene Wortfetzen. Eine Frau wiederholt einen Track lang: „Sore wa ... watashi!“ - Das da, das bin ich!“ . Welche Geschichte sich hinter den anderen Stimm-Samples verbirgt? Es bleibt unklar, die fremde Sprache aber harmoniert großartig mit den reduzierten Melodien und Rhythmus-Schleifen. Jenssen ist etwas Besonderes gelungen, ein atmosphärisch sehr dichtes Album. Genau wegen dieser Stimmung wurden Biosphere-Stücke in den vergangenen Jahren immer wieder für Soundtracks benutzt, auch im im neuen Terrence-Malick/Brad-Pitt/Sean-Penn-Film „The Tree of Life“ gehört ein Stück von Jenssen zum Soundtrack. Bei „N-Plants“ wird die Wirkung des Albums aber noch verstärkt durch das Wissen um die Katastrophen, die sich in japanischen Kraftwerken kurz nach Fertigstellung abspielten.
Der Vergleich mit „Kraftwerk“ und ihrem Song „Radioaktivität“ drängt sich auf. Aber bei aller hellseherischer Kraft, die man den deutschen Elektronikpionieren zugestehen muss: In Sachen Atomkraft waren sie eher blauäugig („Radioaktivität, für dich und mich im All entsteht“), erst nach der Katastrophe von Tschernobyl änderten sie den Text ihres Klassikers, so dass er nun auch als kritischer Kommentar zu verstehen war – nicht unähnlich der Reaktion von Angela Merkel nach Fukushima also. Geir Jenssen jedenfalls geht sound- und atmosphärenmäßig subtiler zur Sache als Kraftwerk.
Noch ein anderer Vergleich lässt sich angesichts der Jensschen Vorahnung ziehen. Und zwar zur Hip-Hop-Band „Coup“ und ihrer Platte „Party Time“. Kurz vor den Anschlägen vom 11. September 2001 auf das World Trade Center hatten sie die Attacke auf dem Albumcover vorweg genommen: Die dank Fotomontage explodierenden Twin Towers sehen den wenig später wirklich rauchenden und brennenden Zwillingstürmen zum Verwechseln ähnlich. Zwei Tage nach 9/11 wurde das Design der noch nicht veröffentlichten Platte zurückgezogen. Glück brachte das „Coup“ nicht. Zwar war die Band zunächst in aller Munde, doch wurde sie auch der Mitwisserschaft und der Verbindung zu Al-Qaida bezichtigt und erhielt Morddrohungen.
Bei Geir Jenssen alias Biosphere dürften diese ausbleiben: Zu schön sind seine Tracks, um böses dahinter zu vermuten. Außerdem: Er widmet zwar dem Kernkraftwerk Sendai einen Track, also dem Reaktor, der in der vom Tsunami am heftigsten gebeutelten Region Japans steht. Und auch die Reaktoren von Monju (neben einem Forschungsreaktor der einzige „schnellen Brüter“ Japans) und von Ikatha (hier wurde einst „Godzilla vs. Mothra“ gedreht) bekommen ein Lied gewidmet. Doch Fukushima, das neue Wahr- und Warnzeichen in Sachen zu viel Technikgläubigkeit, taucht nicht auf – hier versagten die hellseherischen Kräfte des Geir Jenssen.