Alte Bekannte mit neuem „Spirit“

DM
Da ist sie also wieder, die Band, nach der man die Uhr stellen kann. Vier Jahre nach ihrem letzten Album, das vier Jahre nach dem davor kam, welches vier Jahre nach dem davor, welches vier Jahre ...(nicht schwer zu verstehen, dieses System) überraschen Depeche Mode so gar nicht mit einer neuen Platte.

Spirit heißt sie und sie klingt, auch wenn die harten Fans, von denen es vor allem in Deutschland so viele gibt, das vehement bestreiten werden, wie alle Depeche-Mode-Alben seit Jahrzehnten eben klingen: schwer, ein bisschen düster, ein Hybrid aus elektronischen Sounds und ein bisschen Rockgehabe, aus ausgiebig wiederholten Parolen, aus mal deutlicher, mal unkonkret-angedeuteter Unzufriedenheit mit der Welt im allgemeinen und im privaten, aus ein bisschen Erotik.

Und weil das ja durchaus seinen Reiz haben kann, weil es immer noch Musik für die Massen ist und weil Depeche Mode eben diese Band bleibt, nach der man die Uhr stellen kann, jedenfalls seit Sänger Dave Gahan seine Drogensucht hinter sich gelassen hat und Hauptsongschreiber Martin Gore nicht mehr so tief in die Flasche guckt, eignet sie sich sehr gut für höhere Zwecke. Höhere Zwecke, bei denen wohl ziemlich viel Geld geflossen sein wird: der magentafarbene Kommunikationsriese aus Deutschland lud am Freitagabend zum „Street Gig“ ins ehemalige Funkhaus Nalepastraße in Oberschöneweide, eine sehr intime Angelegenheit vor rund 1000 Zuschauern. So ein Auftritt einer der erfolgreichsten Bands überhaupt muss natürlich mit der Welt geteilt werden, das Ganze wurde per Stream übertragen. 1000 feiern vor Ort, Hunderttausende dürfen dabei zuschauen. Gab es schon mal eine größere Record-Release-Party? Vielleicht nicht, aber egal, für große Ansagen oder gerührtes Innehalten bleibt keine Zeit, auf die Minute genau um 20 Uhr 05 sollte es losgehen und ging es dann auch los, exakt eine Stunde später war alles vorbei. Im Kleinen wie im Großen: Depeche Mode wirken wie ein auf Planungssicherheit fixiertes Unternehmen, nicht wie eine künstlerisch getriebene Gruppe. Aber darf man das Musikern, seit 37 Jahren zusammenarbeiten, vorwerfen? Bzw. wären die überhaupt noch zusammen, wenn sie anders an ihre Lieder und ihre Konzerte herangingen, diese Arbeitskollegen, die keine Freunde?

Depeche Mode ist eine Band, über die man sehr viel, aber sehr wenig Neues sagen kann. Das Neue zuerst: Dave Gahan trägt jetzt Menjou-Schnurrbärtchen und rot-schwarzes Bühnenoutfit, Weste, Seidenhemd, Hosen im Stile eines Tangotänzers. Martin Gore dagegen hatte wohl vergessen, sein Schlaf-T-Shirt auszuziehen, grau und verschlissen sieht es aus, ähnlich locker herunterhängend wie seine schwarze, weite Hose. Aber immer noch besser als sein Leder-Bondage-Geschirr aus alten Zeiten. Auch nicht unwichtig: bei beiden saßen die Haare sehr gut, Dave Gahan wie immer ordentlich gegelt oder pomadisiert, Martin Gore die Locken kurz und gebändigt. Das sind die kleinen Dinge, über die man als ehemaliger Fan schon glücklich ist: dass die Band, mit der man groß geworden ist, der man das erste Mal 1983 in der Deutschlandhalle zugejubelt hat, nicht peinlich wirkt. Apropos peinlich: wie hieß noch mal der Dritte im Bunde? Ach ja, Andy Fletcher. Aber der steht an diesem Abend wie immer ziemlich regungslos, aber breitbeinig an seinem Keyboard und macht so gut wie nichts, außer durch seine Sonnenbrille ins Publikum zu starren. So kann er nichts falsch machen, was nicht unwichtig ist, ist es doch bekannt, dass Andys (Depeche Mode sind eine Band, in der die Fans ihre Idole nur beim Vornamen nennen, das haben sie mit den Stones gemeinsam) Fähigkeiten als Musiker eher beschränkt sind. Martin Gore ist da schon von anderem Kaliber, es gibt Menschen, die sehen ihn als einen der besten lebenden Songschreiber. Als Gitarrenspieler, das demonstrierte er ausgiebig, wäre allerdings noch Luft nach oben, ähnlich bewegungslos wie Fletcher starrt er auf die Saiten, die er fehlerfei anschlägt, die eigenen Sounds lösen keinerlei körperliche Reaktionen bei ihm aus. Oder ist das vielleicht Kalkül? Ein in sich ruhendes Gegengewicht zum wie aufgedreht über die Bühne stolzierenden Dave Gahan, der weiß, dass ihm nicht nur ein paar ungewöhnlich nah stehende Fans zusehen, sondern die Welt?

Vom neuen Album spielen Depeche Mode an diesem Abend vier neue Songs, sie passen sich wunderbar ein in die alten, die die Band auch noch liefert, es ist eigentlich egal, ob nun die Frage danach gestellt wird, wo die Revolution bleibt („Where’s The Revolution“) oder ob Dave Gahan uns zum tausendsten Male auffordert, in seine Fußstapfen zu treten („Try Walking In My Shoes“). Beides verführt zum Mitsingen, aber von diesem auch nicht mehr ganz jungem Publikum, das den Weg in die Nalepastraße sicherlich gerne auf sich genommen hat, ist keine Revolution mehr zu erwarten. Und in die Fußstapfen von Gahan zu treten, ist auch utopisch, kaum jemand hat heute noch das Zeug dazu, über 100 Millionen Platten zu verkaufen. Nur: Wie haben Depeche Mode das eigentlich geschafft? Am Tanzstil von Gahan kann es nicht liegen, sein notorisches Hüftwackeln, bei dem er seinen immer noch sehr schmalen Hintern gerne dem Publikum zuwendet, wirkt auch ein bisschen albern. Ein eitler Gockel, der betont offensichtlich sein Aussehen in der verspiegelten Bassdrum des Schlagzeugs überprüft. Schaut her, scheint seine Frage zu lauten, für einen bald 55 Jahre alten Mann habe ich mich doch sehr gut gehalten, oder?

Bei Depeche Mode, auch das ist bekannt, herrscht Arbeitsteilung. Martin Gore hat auf „Spirit“ acht der insgesamt zwölf Songs geschrieben. Einer stammt von Gore und Gahan zusammen, drei von Gahan, für die er sich aber auch noch einmal hat helfen lassen, unter anderem von den beiden Musikern, die bei diesem Berliner Konzertabend auch auf der Bühne stehen, von den Studiomusikern Peter Gordeno und Christian Eigner. Die Hits der Platte – und auch die anrührendsten Momente – stammen aus der Feder von Gore. Vielleicht hat Dave Gahan aus Verzweiflung darüber so viel Blues in der Stimme. Vielleicht ist es aber auch wirklich die Verzweiflung über die Welt, in der gerade so vieles den Bach runtergeht: „Wir gehen rückwärts, bewaffnet mit neuer Technologie, zurück zur Höhlenmenschen-Mentalität“ kann man Zeilen aus dem neuen Song „Going Backwards“ übersetzen. Gesellschaftskritische Töne einer Gruppe, die 1980 als harmlose Synthie-Teenie-Band anfing. Die aber schon wenig später, mit Songs wie „Two Minute Warning“ oder „People Are People“ politische Inhalte in eingängige Melodien packte. Das ist über 30 Jahre her. Aber – leider – so nötig wie eh und je. So gesehen machen Depeche Mode immer noch alles richtig.

(Dieser Text erschien in ähnlicher Form im Berliner "Tagesspiegel".)