Retromania - im Westen nichts Neues!

Flower
Popmusik! Das bedeutete einmal: einreißen und Neues erschaffen, nach vorne schauen, progressiv und modern und avantgardistisch an Musik herangehen, innovativ und kreativ. Doch all das ist massentaugliche Popmusik nicht mehr, behauptet zumindest der Musikjournalist Simon Reynolds, einer der besten, die die Zunft so zu bieten hat. „Retromania - Pop Culture's Addiction to its Own Past“ heißt sein neues Buch, es ist bislang nur auf Englisch erschienen. Unter anderem heißt es da, „die größte Gefahr für die Zukunft unserer Musik ist vielleicht ihre Vergangenheit.“ Really, my friend?
Die ganze Welt stürzt sich auf die Vergangenheit. Und da darf die Musik natürlich keine Ausnahme machen: Klar, dem 17-Jährigen (ich weiß auch nicht, warum, aber immer trifft es „den 17-Jährigen. Wer ist das nur?) mag es egal sein, ob seine Musik schon zum zweiten oder dritten Mal aufgekocht wird, es kann ja sogar dazu führen, dass er dadurch überhaupt erst anfängt, seinen musikalischen Horizont zu erweitern. Aber es hat etwas Unoriginelles, dieses Schielen nach früher. Musik, die sich auf Musik von früher beruft, hat nicht mehr so viel Kraft wie das Original, sagt Simon Reynolds (alles andere als ein „Simple Simon“! Weil sie aus einer ganz anderen intellektuellen Position heraus gemacht wird, aus einer kopfgesteuerten. Sie hat etwas von Orangensaft: Sie ist Saft aus Konzentrat, vielleicht sogar mit Zucker versetzter Fruchtsaft, nicht aus frisch gepressten Orangen.
Und wenn er da so schreibt von der letzten Dekade, der „Re“-Dekade, dann sieht man auf einmal überall, den Retro-Teufel: immer mehr Jahrestage und Jubiläen werden gefeiert. Bands, die sich schon lange aufgelöst haben, sind auf einmal wieder da (Beispiel: die Stooges, Devo, Fleetwood Mac. Duran Duran haben eine neues Album, Blondie kommt im Juli mit einem neuen. und seit Take That vorgemacht haben, wie mit verkaufter Nostalgie so richtig Kohle zu machen ist, wird mit weiteren Musik-Zombies, an die wir jetzt noch gar nicht denken, zu rechnen sein. Und dann noch der ganze andere Kram aus der Mottenkiste, die Fernsehshow, die sich mal mehr, meist weniger gelungen mit der musikalischen Vergangenheit beschäftigen, mit den größten Hits der 70er, 80er, 90er. die entsprechenden Partys dazu, die ständige Wiederkehr von Soul, Rave, Folk, Electropop oder Goth spielen. Und natürlich die ganzen wiederveröffentlichten Platten. Wer soll sie hören, wo es doch so viel andere Musik gibt?
Retro, das gab es schon immer (sogar in den 40ern, verrät mir Simon Reynolds, da sammelte man vergriffene Jazz-Platten aus der Vergangenheit und fühlte sich großartig. Jetzt aber ist Retro nicht mehr Nische, sondern Mainstream, die letzte wirkliche musikalische Revolution liegt zwanzig Jahre zurück, das war Techno, nicht nur Musik, sondern eine ganz Jugendbewegung, die völlig ironiefrei und ohne Blick zurück, volle Kraft voraus, inklusive Mode, Rituale, Tanz in die Zukunft zog. Seitdem: Tote Hose auf der halbwegs massentauglichen Popbühne.
Maybe we need to forget, schreibt Reynolds. Aber wie soll das gehen? Youtube und itunes sind riesige Archive, Multimedia-Bibliotheken, in denen man jede Minimode der letzten 50 Jahre aufspüren kann, um sie dann zu kopieren, zu interpretieren oder als Sprungbrett zur nächsten Mode zu nutzen.

Was obskure Musik von früher angeht: Es gibt eine Reihe von Plattensammlern und –verkäufern, die ziemlich viel Energie aufbringen, um die die Musikgeschichte umzuschreiben. Sie erfinden neue Genres, um Platten zu verkaufen oder den Preis ihrer Sammelobjekte zu steigern. Ethiopian Funk, Chilean Psychedelic Music, Space Age Bachelor Pad Music (ein griffiger Name für früher mal sehr uncoole Easy-Listening-Instrumentals aus den 50ern und 60ern) gab es früher als Musikbezeichnung nicht. Jetzt aber schon.

Simon Reynolds ist Engländer. Aber wie sieht es eigentlich mit Retro in Deutschland aus? Für mich ein komischer Fall: Wir haben hier ganz lange mit Musik zu tun gehabt, die nicht aus uns selbst kam, sondern ein Aufguss der britischen und amerikanischen Musik war. Erst in den 70ern gab es mit Krautrock und dann auch mit Kraftwerk eigenständige, emanzipierte Musik. Dann noch mal um 1980 herum, mit Beginn der Neuen Deutschen Welle, die schnell zur ziemlich blöden, vielleicht etwas anderen Schlagermusik mutierte und totgeritten wurde. Und schließlich mit der maßgeblich in Deutschland entwickelten Technomusik, die aber nach vorübergehender Massenkompatibilität wieder in der Subkultur verschwunden ist.Davon mal abgesehen aber war und ist deutsche Musik überwiegend aufgewärmte Musik.

Deutschland ist zwar für die Musikindustrie eines der wichtigsten Länder, weil hier viel Musik verkauft und konsumiert wird, wir sind aber trotzdem keine Popnation. Diese Retromania, die Simon Reynolds als gebürtigen Engländer so schreckt, hat hier nicht die gleiche Wirkung, weil wir das Problem gar nicht so sehen, glaube ich. Originalität spielt bei uns nämlich gar nicht so eine Rolle.

Und hier noch mal der vollständige Buchtitel:
Simon Reynolds: RETROMANIA - Pop Culture's Addiction to its Own Past – 456 Seiten, Englisch, um die 20 Eur